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Früge mich ein Touri aus den USA, aus China oder Australien oder weiß der Geier, was eine typisch deutsche Erfahrung ist, eine, die man einfach mal gemacht haben sollte, wenn man hier ist – so was wie Fischen in Norwegen oder Thanksgiving in den USA, etwas, das einem das Wesen des Landes mal so richtig nahe bringt – meine Antwort würde lauten: Lange Strecken mit der Deutschen Bahn fahren an einem Tag, an dem Zugpersonal und Lokführer streiken. Aber bitte nur, wenn man keine terminlichen Verpflichtungen an besagtem Tag hat. Ein solcher Tag hat alles: Spiel, Spaß und vielleicht sogar Schokolade. Tatsächlich bin ich mal Bahn gefahren und wir hatten aufgrund gleich mehrerer Böschungsbrände in Gleisnähe so viel Verspätung, dass das ICE-Bordpersonal die Fahrgäste auf Kaffee und Kuchen im Bordbistro einlud. Super! Nette Geste, oder nicht? Tatsächlich schlage ich mich im Streit mit all den Bahnkritikern (Über die Bahn nörgeln ist genauso deutsch wie über’s Wetter nörgeln …) gerne auf die Seite der Bahn. Wenn man berücksichtigt, dass tagtäglich mehr als 30.000 Personenzüge und 7.500 Güterzüge auf dem engmaschigen deutschen Schienennetz verkehren (das längste in Europa mit 33.000 km), dann ist die ein oder andere Verspätung und auch das ein oder andere Chaos entschuldbar, denke ich. Oder nicht?
Jedenfalls ist heute so ein Tag. Lokführer und Bordpersonal streiken. Alles ist Chaos. Alles kommt zu spät. Und ich fahre von Lübeck nach Berlin mit drei mal umsteigen. Für 29,95. Sparpreis mit Bahncard 25. Und auch wenn die meisten um mich herum genervt, frustriert und in Angst sind, ihre Anschlüsse zu verpassen, kann ich mich ganz entspannt zurück lehnen, dem hektischenTreiben folgen und die etwaigen Verspätungen mit Humor nehmen. Klar, möchte ich irgendwann mal in Berlin ankommen, aber ob das jetzt um zwei ist oder um sechs, ist mir herzlich egal. Und da kommt auch schon der freundliche Zugbegleiter, um mich und den Rest des Abteils in dieser schwierigen Situation zu unterhalten.
“Haben Sie eine jültige Bahncard?”, fragt er und sieht mich prüfend an, “Die müsste ik bitte sehen.” Ich schlucke.
“Hier ist meine alte. Die neue liegt zu Hause auf meinem Schreibtisch, weil ich seit sechs Wochen unterwegs bin und überhaupt …” Das Denkwerk arbeitet, legt immer neue Argumente zurecht, warum ich ohne gültige Bahncard unterwegs bin und trotzdem die Frechheit besessen habe, ein ermäßigtes Ticket zu kaufen. In meinen Taschen krame ich nach meinen letzten isländischen Kronen zum Beweis. Der Zugbegleiter mustert mich mit ernstem Ausdruck, schnauft.
“Irgendwatt hab ik falschjemacht.”, sagt er und schnauft erneut. Jetzt ist es so weit, ich werde rausgeworfen, angezeigt, von der Polizei abgeholt, Zwangsarbeit, Strafversetzung, nie mehr reisen. Ich halte die Luft an. Er fährt fort: “Warum haben Sie in ihrem Alter nen Schreibtisch und ik muss mein Leben mit bald sechzick immer noch in volln Zügen jenießen.” Bumm. Der Stein fällt mir vom Herzen und rollt über den Boden des Abteils. Das lacht. Ich atme auf. “Jute Fahrt!”, wünscht er mir und zieht weiter. Auch das ein großer Vorzug solcher Streiktage: Das Personal ist deutlich kulanter. Ohnehin scheinen an solchen Streiktagen alle etwas zusammen zu rücken. Fahrgäste und Personal, Personal und Personal, Gäste und Gäste. Vielleicht, weil es so eng ist?! Man kommt sich näher als üblich in Deutschland. Und so beginnen die beiden älteren Damen, mit denen mein Rucksack, meine Kissenfreundin Elsa und ich den Vierer teilen, ihre komplette Lebensgeschichte vor uns auszubreiten, wohin sie wollen, was sie da machen, woher sie kommen, welche Krankheiten sie haben, hatten und gehabt haben werden (auch das ein urdeutscher Eisbrecher), welche Krankheiten in ihrer Familie liegen, wer woran gestorben ist und wann und welche Kurorte man am besten aufsucht, um seine Krankheiten zu pflegen: Bad Bevensen in beiden Fällen. “Meine Oma ist immer nach Bad Brückenau.”, werfe ich ein, um auch etwas gesagt zu haben, glaube aber nicht, dass die beiden gereiften Nordlichter wissen, wo das sehr viel südlichere Bad Brückenau liegt. “Rhön!”, ruft die eine da, “Oh wie nett. Mein Großonkel hatte sein Leben lang schreckliche Gelenkschmerzen. Wir glauben ja, das lag daran, dass …” Und weiter geht’s. Von Bad Brückenau nach Bad Soden, über Bad Malente, Titisee-Neustadt und Ueckermünde an der Ostsee, zurück nach Bad Bevensen und das ganze noch mal von vorne. Ok, Titisee-Neustadt war zugegeben nicht wirklich Teil des Gesprächs, aber der Name ist einfach so witzig. Bevor es in die dritte Runde Stadt-Land-Kurort geht sagt der Zugbegleiter “Berlin Ostbahnhof” an. Ich bin da. Ironischerweise als vermutlich einziger Fahrgast an diesem Tag ohne Verspätung. Rucksack auf, Elsa unter den Arm und raus. Ein Tag mit Spiel und Spaß. Leider ohne Schokolade. Trotzdem sänk you for trewelling wiss Deutsche Bahn.